Das große Dilemma
Wer das herrschende System (und damit ist nicht nur das Knastsystem gemeint) grundsätzlich ablehnt, steht vor einem generellen Problem. Da die Revolution anscheinend nicht unmittelbar vor der Tür steht, stellt sich die Frage, was wir tun sollen. Weil dies hier eine Anti-Knast-Publikation ist, beschränke ich mich auf den Bereich Knast, obwohl das Dilemma in allen anderen Bereichen auch gilt.Legen wir den Schwerpunkt darauf, unsere Forderung - (nein Forderung ist der falsche Begriff. Vom wem sollten wir etwas fordern? Etwa von diesen Herrschenden? Von denen sollten wir nur fordern, daß sie verschwinden. Sagen wir als lieber:) unsere Vorstellung einer Gesellschaft ohne Knäste offensiv zu propagieren? Oder legen wir - angesichts der herrschenden Kräfteverhältnisse - den Schwerpunkt darauf, "das Schlimmste" zu verhindern? Eigentlich tun wir beides nur halbherzig.
Wir freuen uns, wenn zu unseren Anti-Knast-Demos mal hundert Leute kommen. Wir freuen uns über Transpas, auf denen nicht nur die Freiheit für einzelne Gefangene, sondern „Freiheit für Alle“ gefordert wird. Dabei wissen wir doch insgeheim, dass viele DemoteilnehmerInnen dies gar nicht so meinen. Deshalb bemühen wir uns in unseren Redebeiträgen um "linke correctness". Ich gebe es zu, daß ich mich bisher auch nicht getraut habe, auf einer Anti-Knast-Demo zu sagen, dass Freiheit für Alle wirklich ALLE meint. Dass wir uns mit Nazis und Vergewaltigern zwar auseinandersetzen müssen, aber wir sie nicht einsperren wollen. Doch wir riskieren nicht ausgepfiffen zu werden, oder daß die Hälfte der Leute die Demo verläßt.
Klar, auch für mich gehören Nazis und Vergewaltiger nicht zu denen, die ich als erste raus lassen würde. Aber auf dem Weg zu einer Gesellschaft ohne Knäste kommen wir irgend wann auch an einen Punkt, wo wir überlegen müssen, wie wir mit ihnen umgehen, ohne sie einfach wegzusperren.
Einem Teilschritt bei der Abschaffung der SV, im Sinne von "Keine SV mehr für Eigentumsdelikte" würde ich mich nicht verweigern. Einige Gefangene haben sich ja auch schon in dieser Richtung geäußert. Ich selbst hatte bei einem Knastgruppentreffen schon ähnliches angeregt. Heute bin ich skeptischer. Wir brauchen hier vermutlich nicht darüber zu diskutieren, daß Bankraub für uns auch zu den Eigentumsdelikten gehören. Im Gegensatz zur Meinung der herrschenden PolitikerInnen. Allerdings würde ich so eine Teilforderung immer als ERSTEN SCHRITT sehen, im Gegensatz zur Meinung der meisten Gefangenen, die sich bisher dazu geäußert haben. Diese erklären nämlich die anderen Gefangenen zu Kranken, die weggesperrt bleiben müssten. Alles andere sei Utopie, so diese Gefangenen.
Diese Position ist mir einfach nicht radikal genug. Klar, ich bin nicht so naiv zu glauben, daß es unter den betroffenen Gefangenen nicht einige gibt, mit denen auch wir nicht zusammen leben wollten. Ich verweigere mich keiner Diskussion, in der überlegt wird, was mit diesen "wenigen Gefährlichen" geschehen soll. Ich habe da auch noch nicht "die" Lösung. Über eine irgendwie geartete "Insel", auf der die dann miteinander klar kommen müßten, bin ich noch nicht hinaus gekommen. Was aber immerhin schon ne Verbesserung der Lebensbedingungen der Betroffenen wäre. Denn die meisten Gefangenen wären ja schon froh, wenn sie NUR eingesperrt wären. Knast ist ja tausenmal mehr, als NUR eingesperrt zu sein: Zensur, Ausschluß von allgemein zugänglichen Medien, Reglementierung bis hinein in den kleinsten Lebensbereich, bis hin zur Isolationshaft - all dies ist Knast. Und dieser Wahnsinn muß endlich verschwinden.
Außerdem wird allzu häufig die Problematik der "wenigen Gefährlichen" dazu benutzt, um zu legitimieren, daß mensch sich nicht in diesem Bereich engagiert. Was so mit dazu beiträgt, daß die restlichen 95%, die sofort problemlos entlassen werden könnten, weiter im Knast bleiben. Wir sollten uns vielmehr damit auseinandersetzen, warum Leute überhaupt im Knast landen. Nehmen wir den Bereich Eigentumsdelikte. Gut, die Ursache, warum es Eigentumsdelikte gibt, liegt darin, daß es Eigentum gibt. Bankraub würde sofort verschwinden, wenn es keine Banken mehr gäbe. Das wäre effektive Kriminalitätsbekämpfung.
Schon wieder zu utopisch? Gut, gehen wir eine Stufe tiefer. Wir sagen oft, daß die Menschen nicht von Hartz IV überleben können. Dann wird von irgendwelchen ‘Bürgers’ argumentiert, dass das Geld nicht für Kultur reicht. Warum sagen wir nicht, wie es ist? Viele Erwerbslose sind auch süchtig. Sie rauchen, saufen, kiffen, zocken oder sind an der Nadel. Alles kaum oder gar nicht von Hartz zu finanzieren. Also klauen und Knast. Meiner Erfahrung nach sind 90% aller Gefangenen süchtig. Warum sagen wir dies nicht? Weil wir dann bei den (linken) SpießerInnen nicht ankommen? Schließlich gilt hierzulande (bis weit hinein in die linken Kreise) ja der Mythos: „unverschuldet“, „unschuldig“. Wenn mensch sich schon engagiert, dann für Unschuldige. Aber die Süchtigen? Die sind doch selber schuld. Schuld woran? Dass diese Gesellschaft so kaputt ist, dass wir sie nüchtern nicht mehr ertragen können? Schuld daran, dass unsere Süchte gnadenlos ausgebeutet werden?
Nehmen wir zum Schluss noch das Beispiel sexuelle Gewalt. Die meisten Fälle von sexueller und anderer Gewalt passieren in der klassischen Kleinfamilie. Ginge es uns wirklich um die Bekämpfung von (sexueller) Gewalt, dürften wir uns nicht mit dem Wegsperren einiger "Monster" begnügen, sondern wir müssten die Abschaffung der Familie und der Kirche fordern. /GL
p.s.: Die Probleme sind hier nur angerissen. Ich meine, daß wir Diskussionen führen müssen, heute, und wir nicht bis „nach der Revolution“ warten können. Also laßt uns diskutieren!
aus straflos 3
Herbst 2010
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