Sonntag, 27. Dezember 2009

straflos 1, Das große Mißverständnis

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Wenn wir von einer Gesellschaft ohne Knäste sprechen, meinen viele unserer GesprächspartnerInnen DIESE Gesellschaft ohne Knäste und halten dies für eine Utopie. Sie haben recht. Diese Gesellschaft ist so sehr auf Konkurrenz, Gewalt und Macht aufgebaut, daß sie ohne Knäste oder andere Formen von Strafe nicht existieren kann. Aber ist es nicht naiv zu glauben, daß dieses Gesellschaftmodell der Weisheit letzter Schluß ist? Ist es wirklich total unrealistisch zu glauben, daß sich Gesellschaften auch mal anders organisieren könnten? Von Klein an sind wir in dieser Gesellschaft mit Gewalt und Strafe konfrontiert. Vieles davon ist durch die krasse öknomische Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft bedingt. Wenn das Kind hungrig in den Kindergarten geht, weil die Eltern (oftmals auch nur die Mutter) zum unteren Drittel der Gesellschaft gehören, so ist dies natürlich Gewalt. Und das Kind empfindet es natürlich als Strafe, wenn ihm vieles vorenthalten wird, was für Kinder reicher Eltern selbstverständlich ist. Diese Gewalt setzt sich dann nahtlos in der Schule fort (Über das Schulsystem ließen sich mehr als nur ein Beitrag schreiben). Wer dann nach der Schule die „Alternative“ hat, prekärer Billiglöhner oder Hartz 4-Empfänger zu werden, empfindet dies natürlich als Gewalt. Auch Strafen finden hierzulande meist auf ökonomischer Ebene statt. Bei nicht normgerechten Verhalten oder gar Aufbegehren spannt sich eine weite Kette vom Taschengeldentzug, über die Leistungsverweigerung durch die ARGE bis hin zur Geldstrafe. Selbst im Knast finden die meisten Hausstrafen auf der öknomischen Ebene statt: Einkaufssperre oder Entzug des TV.Geräts sind nur Beispiele dafür. Eine ökonomisch extrem ungerechte Gesellschaft läßt sich eben nur mit Gewalt und durchsetzen.
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Gewalt erzeugt Gegengewalt
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Wer durchbricht die Gewaltspirale?
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Es existiert aber auch unbestreitbar direkte körperliche Gewalt. Diese direkte Gewalt gibt es auf individueller und auf staatlicher Ebene. Beide mit steigender Tendenz. Beide haben miteinander zu tun und schaukeln sich gegenseitig hoch. Anders ausgedrückt: Je gewalttätiger ein Staat ist, desto gewalttätiger wird die Bevölkerung. Dies zeigt sich exemplarisch an der Beziehung Krieg und Knast. Staaten welche Krieg führen verzeichnen einen Anstieg der Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft. Nach einer neueren Untersuchung sind über 10% aller Gefangenen in Großbritannien ehemalige Soldaten. In den USA gab es ähnliche Erfahrungen mit Vietnam-Veteranen. Wer von Staats wegen töten darf, verliert eben eine natürliche Hemmschwelle. Ähnliches gilt auch für die Todesstrafe. Wer seiner Bevölkerung sagt, daß Töten unter bestimmten Umständen erlaubt und erwünscht ist, ja, was sendet der für ein Signal aus? Aber auch individuelle Gewalt schaukelt sich manchmal hoch, ja sie „vererbt“ sich teilweise. Unbestritten sind viele gewalttätige Menschen als Kinder selbst Opfer von Gewalt gewesen. Der 5-jährige, der mißhandelt wird, wird von allen bedauert, die BLÖD-Zeitung voran. Zehn Jahre später schlägt er selbst zu und ist plötzlich „die Bestie“. Um es mit der BLÖD-Zeitung auszudrücken. Individuelle Gewalt ist aber oftmals nicht nur Reaktion auf selbst erlebte körperliche Gewalt, sondern häufig auch Reaktion auf strukturelle soziale Gewalt. Staatliche Gewaltausübung dient aber nicht nur der Aufrechterhaltung der ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie befriedigt auch die Gewaltphantasien derer,die aus irgendwelchen Gründen davor zurückschrecken, selbst individuelle Gewalt auszuüben.
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Abolitionismus ist kein Selbstzweck
Wenn wir unser Ziel einer „Gesellschaft ohne Knäste“ formulieren hören wir oft die Frage, was uns das hier und heute nützt? Wenn wir sagen, daß dies ein langfristiges Ziel ist, daß sich unter den derzeit herrschenden gewalttätigen Gesellschaftsbedingungen nicht unmittelbar verwirklichen läßt, so bedeutet dies nicht, daß wir nun tatenlos warten, bis die entsprechenden gesellschaftlichen Bedingungen verwirklicht sind. Nein, kleine Schritte sind jetzt schon erforderlich. Grade weil uns das große Ziel die Richtung vorgibt, laufen wir nicht Gefahr reformistisch zu werden. Reformismus bedeutet, das bestehende Unrechtssystem zu verbessern. Etwas, das grundsätzlich falsch ist, kann aus unserer Sicht aber nicht verbessert werden. Wir können nur versuchen, das System Schritt für Schritt zurückzudrängen.

aus STRAFLOS 01 vom November 2009

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